36. BAHNHOF WERFEN

DIE ZWEITE PLÜNDERUNG DER OPFER
Mai 1945. Ein schwerbeladener Eisenbahnzug. Ziel: der „sichere“ Westen. Inhalt: unschätzbare Werte, ca. 150 bis 200 Millionen Dollar, nach heutigem Wert das Zehnfache. 46 Waggons, 24 davon beladen mit Besitztümern der 600.000 ermordeten ungarischen Juden, rollen durch Salzburg. Bei jedem Stopp und im vorläufigen Lager in Salzburg wird der Inhalt von der österreichischen Bevölkerung, aber auch von amerikanischen Soldaten geplündert – einer der größten Raubzüge der Geschichte. Eine – halbherzige – Entschädigung kam um Jahrzehnte zu spät.
Das Dekret trug die Nummer 3840. Mit diesem Papier wurde jüdisches Eigentum in Ungarn von den faschistischen „Pfeilkreuzlern“ als „Eigentum der Nation“ deklariert. Es war einer der traurigen Höhepunkte des ungarischen Holocaust: Gold und Goldstaub, Eheringe, Diamanten, Gegenstände aus der Synagoge, Bücher, Uhren, 1200 Gemälde, Kameras, Violinen aus geplünderten jüdischen Haushalten wurden am 3. November 1944 in einen Zug gepackt, um sie vor der Roten Armee „in Sicherheit“ zu bringen. Organisiert hatte diese Plünderung ein Sonderkommando von Adolf Eichmann.

Bereits bei der Auslagerung aus einem Schacht bei Budapest hatte der ungarische Gendarmerieoffizier Arpad Toldy 52 Kisten gestohlen. Auf der Route des Zuges von Ungarn nach Österreich, Frankreich, Deutschland und die USA bedienten sich viele gierige Hände. Die meisten Wertgegenstände hatten die Besitzer nach dem Krieg schon allein deswegen nicht mehr erreicht, weil ihre Besitzer getötet worden waren. Auch nach langen juristischen Auseinandersetzungen war es den 300 Hinterbliebenen nicht möglich, an die Reste des Schatzes zu kommen. Selbst die ungarische Regierung blieb auf diplomatischer Ebene chancenlos. Die Überbleibsel wurden vom UN-Flüchtlingshochkommissariat bei Auktionen veräußert, der Erlös – ein Hundertstel der geraubten Summe – auf jüdische Verbände aufgeteilt.

In Salzburg stoppte der Zug in Böckstein bei Bad Gastein, in einem Tunnel bei Werfen (16. Mai), wo er den US-Soldaten übergeben wurde, und in Salzburg-Stadt. Die Armee lagerte die Werte in ein Salzburger Lagerhaus ein, bald schmückten die Besitztümer aber die Wohnungen von US-Offizieren. Der „Jewish Agency“, die den Wert der Gegenstände auf 350 Millionen Dollar schätzte, wurde 1945 der Zutritt verweigert, 1946 war nur mehr der Inhalt von 16 der einst 24 Wagen in Salzburg vorhanden. Die Amerikaner fertigten nicht einmal ein Inventar an, da sie laut „Pariser Reparationsabkommen“ von 1946 nichtmonetäre Mittel nicht zurückerstatten, sondern für die „Flüchtlingshilfe“ verwenden konnten.

Im Lager herrschte Anarchie, jeder klaute, was er unter die Nägel bekam und an der korrupten Wache vorbeitragen konnte. Der hochgelobte Generalmajor Harry J. Collins, Kommandeur der in Salzburg stationierten 42. Infanteriedivision, beschmutzte seinen Ruf nachhaltig, als er für seine Villa „Porzellan, Silberbesteck, Teppiche und Tischware“ in allerfeinster Qualität orderte. Collins, der sich dafür niemals rechtfertigen musste, heiratete die Salzburgerin Irene Gehmacher, setzte sich 1954 zur Ruhe und starb 1963; er ist in Salzburg in St. Peter begraben. Die Juden wurden damit zum zweiten Mal beraubt, ausgerechnet von der Macht, die Europa von den Nazis befreit hatte.

Bill Clinton setzte 1998 eine Präsidialkommission ein, die wenig Neues brachte. 2005 zahlte die Regierung in einem Vergleich 25,5 Millionen Dollar an jüdisch-ungarische NS-Opfer und schloss damit dieses Kapitel des Krieges. (cs)

LITERATURTIPPS:

Sabine Stehrer: Der Goldzug. Wien 2006.


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