57. BAHNHOF BERCHTESGADEN

KARIKATUR VON BAUKUNST
Architektur, die von nationalsozialistischen Geistern entworfen wurde, kommt protzig, behäbig, uniformierend und beherrschend daher: als bürokratischer
Zweckbau mit festungsartigen Türmen, pompösen Torbogen oder älplerisch behübschter Idylle, die den Geschmack von Traditionalisten bis heute beeinflusst. In Hitlers Machtzentrale Berchtesgaden steht ein Musterbeispiel
– ein Prachtexemplar von nationalsozialistischem Bahnhof, das unter Denkmalschutz steht.
Hier kam er an, wenn es kein Flugwetter gab, oder er fuhr ab – wie am 22. November 1942, als seine Soldaten bei Stalingrad schon massenweise dem sicheren Tod entgegengingen. Drei Tage zuvor hatte Hitler in seinem Domizil auf dem Obersalzberg von der eingekesselten 6. Armee erfahren. Nun fuhr er von Berchtesgaden in seinem Sonderzug nach Leipzig, von dort weiter zum Hauptquartier „Wolfsschanze“ nach Ostpreußen, wo er mit weiteren Befehlen seiner 6. Armee die für Tausende Soldaten lebensrettende Kapitulation verbot.

Die geschmiedeten Stahlstangen für die Fahnen mit den Hakenkreuzen und SS-Runen ragen über den Vorplatz des Berchtesgadener Bahnhofes wie eh und je, und fast sieht man den „Führer“ in dem eigens für ihn errichteten Abfahrts- und Ankunftstrakt verschwinden. In dem von 1938 bis 1940 erbauten Bahnhof vereinigen sich nationalsozialistische Sehnsucht nach Idylle, Belagerung und Unterdrückung mit dem Drang, das „Volk“ und seine traditionellen Bauformen zu vereinnahmen, zu überhöhen und architektonisch zu vergewaltigen. Der Bau kommt als Festung, Bahnhof, Bergbauernhof, Almhütte und Plumpsklo gleichermaßen daher. Nicht nur die braune Masse liebt(e) solche Bauten; ebenso Nachfolger im Geiste, von denen manche in alpinen Gegenden noch lange den Ton angaben, wenn es um Raumplanung und Architektur ging.

Diskothek „Hallodri“ in Hitlers Abfertigungstrakt
Zahlreiche Relikte erinnern an das Dritte Reich: Über dem Haupteingang wurde nur das Symbol der Reichsbahn abmontiert, die Stahlflügel sind geblieben. Beim Postamt fehlt der Reichsadler, die Vorrichtung ist zu erkennen. Dazu kommen Beleuchtungskörper und Accessoires im Original-Design der Nazis. In dem für Hitler und seine Gäste reservierten Abfertigungsbereich befinden sich heute ein Reisebüro und die Diskothek „Hallodri“. Allein das zeigt den bizarren Umgang der Deutschen Bahn mit der Vergangenheit ihrer Infrastruktur. In den letzten Jahren haben auf dem Vorplatz Baufirmen planlos gewütet und einen Busterminal sowie einen Kreisverkehr für entpolitisierten Massentourismus geschaffen, der das Ensemble in Gefahr bringt. Der Bau wurde von der bayerischen Staatsregierung unter Denkmalschutz gestellt. Vielleicht ist dadurch auch in 300 Jahren noch zu sehen, wie man Architektur für Politik verwirklicht bzw. missbraucht, die ganze Weltregionen in den Abgrund führt.

In Berchtesgaden empfehlen sich zudem Abstecher ins obere Stadtzentrum mit viel Barock und seiner zum Teil ebenso auffälligen NS-Baukultur sowie zum Sportplatz hinter der modernen Watzmanntherme. Beim Fußballfeld sind noch immer alte Tribünen in Gebrauch und zwei Türme, die als Mannschaftskabinen dienen. Sie stammen wie der Bahnhof aus den 1930er-Jahren. Die SS stattete auch Sportplätze mit Türmen aus, wie sie in Konzentrationslagern in etwas größerer Ausführung gebaut wurden. (gl)

LITERATURTIPPS:

Ernst Hanisch: Der Obersalzberg, das Kehlsteinhaus und Adolf Hitler. Berchtesgaden 1995.

Wolfgang W. Weiß: Spurensuche am Obersalzberg. NS-Geschichte zwischen Vermarktung und Verdrängung, in: Bernd Ogan,Wolfgang W. Weiß (Hg.): Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Nürnberg 1992.


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